Die EU-Verträge mit Pfizer und Moderna sind ein Skandal – so oder so
von Dagmar Henn
Schon der Instinkt schreit "Skandal", wenn man hört, dass die EU einen weiteren Vertrag mit Pfizer und Moderna abgeschlossen hat, in dem die Preise für die Impfdosen deutlich erhöht wurden. Tatsächlich sind diese Verträge auf jeden Fall ein Verbrechen, gleich ob man von einer Wirksamkeit dieser Impfstoffe ausgeht oder nicht. Aber das sollte man schrittweise betrachten.
In der ersten Variante gehen wir davon aus, dass die Wirksamkeit der Impfstoffe wie die Gefährlichkeit der Krankheit, gegen die sie wirken sollen, vollständig den Aussagen entsprechen, die offiziell darüber getätigt werden. Dann ist dieser Vertrag ein Verbrechen, weil er die Belieferung ärmerer Länder und den Schutz der verwundbarsten Gruppen ihrer Bevölkerung verhindert. Kurz gefasst: Dann sorgt die Impfung der Kinder in Europa für den Tod der afrikanischen Großmütter.
So sehr sich die EU-Regierungen bemühen, ihren Bevölkerungen mit allen Mitteln die Impfstoffe schmackhaft zu machen, so desinteressiert sind sie an der Sicherstellung der Versorgung anderer Weltregionen. Es ist die EU, und in dieser wiederum Deutschland, die dafür gesorgt hat, dass die Patentrechte an COVID-19-Impfstoffen nicht ausgesetzt wurden und die damit den Pharmafirmen ungeheure Profite ermöglichen. Aber das ist bei Weitem noch nicht alles.
In dem Bericht "The Great Vaccine Robbery" (Der große Impfraub) fasst eine ganze Gruppe internationaler Wohlfahrtsorganisationen die bisherigen Entwicklungen zusammen. "Den Pharmakonzernen steht es frei, die lukrativsten, hochpreisigen Verträge mit reichen Ländern bevorzugt zu bedienen, auf Kosten des Schutzes von mehr Leben in mehr Ländern."
Die Initiative hat durch Ingenieure des Imperial College in London die Herstellungspreise für die Impfdosen ermitteln lassen. Dabei kam sie für die mRNA-Impfstoffe von Pfizer und Moderna auf Preise zwischen 99 Cent und 2,40 Euro pro Dosis. "Die EU könnte 31 Milliarden über den Herstellungspreis für die mRNA-Impfstoffe gezahlt haben, das entspricht 19 Prozent des gesamten Budgets der EU für 2021."
Das gilt natürlich nicht nur für die EU. Auch in anderen Ländern haben die Konzerne ordentlich eingesackt. "Kolumbien könnte für seine nur 20 Millionen Impfdosen 375 Millionen US-Dollar zu viel an Moderna und Pfizer gezahlt haben. Südafrika an Pfizer 177 Millionen Dollar."
Der Punkt, dessen man sich in Europa eher nicht bewusst ist, ist, in welchem Verhältnis die von den Konzernen verlangten Preise zu den gesamten Gesundheitsausgaben in diesen Ländern stehen. Der Bericht lobt die Afrikanische Union explizit für ihr Verhandlungsgeschick, durch das die Impfdosis von Pfizer immerhin nur 5,70 Euro kostete. Das sei aber immer noch das Sechsfache der geschätzten Produktionskosten. Jedoch:
"Uganda, eines der am wenigsten entwickelten Länder, gibt pro Einwohner jährlich nur 5,77 Euro für Gesundheit aus. Das sind nur sieben Cent mehr, als von der Afrikanischen Union für jede Dosis des Pfizer-Impfstoffes ausgegeben wurde."
Die COVAX-Initiative, die angeblich dafür sorgen soll, dass auch ärmere Länder Zugang zu Impfstoffen haben, wird in dem Bericht als Scheinlösung gebrandmarkt. "Ohne die Einschränkung der Versorgung durch die Impfmonopole und mit dem geschätzten Selbstkostenpreis der Pfizer-Impfung hätten die 7,86 Millionen Euro, die schon durch COVAX ausgegeben wurden, ausgereicht, um jede Person in den Ländern niedrigen oder mittleren Einkommens vollständig zu impfen."
Natürlich beliefern die Pharmakonzerne vorrangig die EU, die bereit ist, Mondpreise zu zahlen. Das ist ganz gewöhnliches kapitalistisches Verhalten. "Moderna und Pfizer sind die schlimmsten Übeltäter. Pfizer hat bis heute nur acht Prozent seiner globalen Produktion in Länder niedrigen und mittleren Einkommens geliefert, COVAX und die Afrikanische Union mit eingerechnet. Für Moderna liegt diese Zahl nur bei sieben Prozent."
Die EU hat sich gerade darauf eingelassen, einen weiteren Zuschlag auf einen ohnehin überhöhten Preis hinzunehmen. Das wird unmittelbar dazu führen, dass die Lieferungen in die ärmeren Länder auf dem niedrigen Niveau verharren, auf dem sie heute sind. Dies bedeutet, dass dort nicht einmal die verwundbarsten Gruppen geimpft werden können, während hierzulande der Impfstoff selbst jenen aufgenötigt wird, die eindeutig mehr Schaden als Nutzen von ihm haben. Die Einkaufspolitik der EU ist unmittelbar für vermeidbare Todesfälle verantwortlich. Das ist die erste Variante des Verbrechens.
Die zweite lässt sich durch einen Blick auf das sonst übliche Vertragsrecht in der EU erkennen. Es sind die EU-Regeln, die zu europaweiten Ausschreibungen zwingen, bei denen jeweils der günstigste Anbieter den Zuschlag erhalten muss. Das ist in diesem Fall sichtlich nicht geschehen.
Noch einmal aus dem "Großen Impfraub": "Der EU scheint es in ihren Verhandlungen besonders schlecht ergangen zu sein. Die Ökonomie der Massenproduktion besagt, dass die Produktionskosten, angesichts der enormen, nie da gewesenen Impfstoffmengen, die produziert werden, mit der Zeit sinken sollten. Aber im Fall der EU geschah das Gegenteil. Die EU soll Pfizer für ihre erste Bestellung von 600 Millionen Impfdosen 15,50 Euro pro Dosis gezahlt haben. Der Preis stieg bei der Folgebestellung von 900 Millionen Dosen auf 19,50 Euro pro Dosis."
Beim ersten Vertragsabschluss letztes Jahr konnten sich die Brüsseler noch halbwegs glaubwürdig damit herausreden, dass es ja eine Notlage sei und daher unmittelbar und ohne Einhaltung der Ausschreibungsvorgaben gehandelt werden müsse. Aber ein Jahr danach?
Ein korrektes Verfahren hätte eine Ausschreibung eröffnet, an der idealerweise alle Hersteller von durch die WHO anerkannten Impfstoffen hätten teilnehmen können. Der günstigste Anbieter würde dann die Dosen liefern; sicherlich für einen Preis weit unter 19,50 Euro (Pfizer) oder gar 21,50 Euro (Moderna).
In diesem Fall wurde erst durch die Nichtzulassung einer ganzen Reihe erprobter Impfstoffe in der EU durch den Nachfrager der Verhandlungen, die EU-Kommission, die Zahl möglicher Anbieter maximal reduziert. Dann wurden unverschämte Forderungen der verbliebenen Anbieter sogleich akzeptiert. Das entspricht in etwa dem, wenn ein Bürgermeister, der zur Ausschreibung einer Baumaßnahme am Rathaus verpflichtet ist, gegen die Regeln des Vergaberechts vorschreibt, ein Bewerber bei dieser Ausschreibung müsse mit Vornamen Hans und mit Nachnamen Schuster heißen (wie sein bester Kumpel). Und dann, weil es nur einen Bewerber bei der Ausschreibung gibt, akzeptiert er einen weit überhöhten Preis.
Dass die Spitze der EU-Bürokratie, die aller Welt die Vergaberichtlinien aufzwingt, selbst die minimalsten Vorgaben für den Umgang mit öffentlichen Aufträgen nicht einhält und damit aufs Gröbste gegen eigenes Recht verstößt, das ist das zweite Verbrechen. Eigentlich sind diese Verträge ungültig. Nur leider gibt es keinen Mechanismus, die EU-Kommission für Verstöße gegen das EU-Recht zu ahnden.
Der nächste Punkt ist leider noch nicht strafbar, aber zumindest schon seit vielen Jahren im Gespräch: Ist es legitim, Verträge, für die öffentliche Mittel aufgewandt werden, geheim zu halten und damit der Kontrolle des jeweiligen Souveräns respektive Parlamentes zu entziehen? Diese Frage taucht immer wieder auf. Schließlich gibt es inzwischen auf allen Ebenen solche Verträge. Man erinnere sich an TTIP, ein Vertrag, den die EU-Abgeordneten nur in einer Kammer lesen durften, ohne Notizen oder gar Fotos machen zu dürfen.
Da es bei der Aufwendung öffentlicher Mittel um das Budgetrecht geht, das höchste Recht, das ein Parlament besitzt, ist Skepsis in Bezug auf geheim gehaltene Verträge mehr als angebracht. Für Gelder, die von der Bevölkerung aufgebracht werden, ist man der Bevölkerung rechenschaftspflichtig. Punkt. Wobei natürlich die EU-Kommission, diese Konzernlobbyistentruppe, regelmäßig und gern dagegen verstößt, und der jüngst mit Pfizer und Moderna geschlossene Geheimvertrag nur ein besonders unverschämter Verstoß ist.
Und selbst, wenn die erste Variante kein Skandal sein sollte, weil der Impfstoff nicht schützt und die Nichtzugänglichkeit eher vor Schaden bewahrt, dann wäre der Vertrag immer noch ein Skandal.
Immerhin, selbst Pfizer schließt diese Möglichkeit nicht aus, wie der Abschnitt 2.1.(c) des jüngst geleakten Geheimvertrages mit Albanien beweist: "Ungeachtet der Bemühungen und aller geschätzten Daten, die im Lieferplan niedergelegt sind, erkennen die Parteien an, dass das Produkt die Phase 2b/3 der klinischen Versuche abgeschlossen hat und dass das Produkt trotz der Bemühungen von Pfizer bei Forschung, Entwicklung und Herstellung, wegen technischer, klinischer, vorschriften-, herstellungs-, transport- oder lagerungsbedingter oder anderer Probleme oder Versagens erfolglos sein kann."
Denn dann wäre es schlicht der größte Betrugsfall der Menschheitsgeschichte, bei dem die EU-Kommission den Komplizen gibt. Also ebenfalls ein Skandal.
Aus dem geleakten #Pfizer-Geheimvertrag und bisher kaum beachtet:"[...]Die Parteien erkennen an, dass das Produkt trotz der Bemühungen von Pfizer in der Entwicklung & Herstellung aufgrund von technischen & klinischen Herausforderungen oder Fehlern nicht erfolgreich sein kann." pic.twitter.com/B627dVQv5h
— Florian Warweg (@FWarweg) August 4, 2021
Und gleich, welche Varianten zutreffen, eines ist noch lange nicht vorüber. Noch einmal der "Globale Impfraub": "Die Pläne, die öffentlichen Haushalte zu plündern, sind damit noch lange nicht am Ende, denn es gibt Belege, dass die Pharmakonzerne für die Zukunft eine noch aggressivere Preispolitik planen. Der Vorstandsvorsitzende von Pfizer hat gesagt, die Impfung sei eine enorme Geschäftsmöglichkeit, und dass eine Nachfolgeimpfung die Quelle dauerhafter Erträge für die Firma in der Zukunft sein solle. Bei einem Investorengespräch am 2. Februar 2021 deutete die Geschäftsführung von Pfizer an, sie würde für eine Auffrischungsimpfung einen höheren Preis anstreben, insbesondere, wenn solche Auffrischungen nötig seien, nachdem die Pandemie vorbei ist."
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